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Wer bin ich – als Mutter, die ein Kind verloren hat

Mit dem Tod eines Kindes – sei es während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz danach – zerbricht nicht nur eine Zukunft, sondern auch ein Selbstbild. Die Frau, die sich Mutter genannt hat oder gerade dabei war, es zu werden, wird auf erschütternde Weise in eine neue Identität geworfen, die sie sich nicht ausgesucht hat. Und zugleich bleibt diese Identität bestehen – Mutter zu sein – aber in einer ganz anderen, weniger sichtbaren, schwerer greifbaren Form.


Die doppelte Erfahrung: Leben geben – und Leben verlieren

In der klassischen Vorstellung ist die Mutter die Gebende: die, aus der Leben hervorgeht, die einen neuen Menschen willkommen heißt, die nährt, schützt, hält.
Wenn dieses Leben aber plötzlich stirbt – mitten im Werden, mitten im Entstehen – passt dieses Bild nicht mehr. Denn als Frau und Mutter steht sie nun nicht mehr nur als Ursprung des Lebens da, sondern auch als eine Zeugin des Verlustes.

In diesem Zwiespalt liegt eine existenzielle Herausforderung für die Identität:
Wie kann man sich selbst als Leben-Spendende wahrnehmen, wenn das Leben, das man schenken wollte, nicht geblieben ist?

Der Medizinethiker Giovanni Maio würde vielleicht sagen:
Die Würde des Menschseins liegt nicht in der Dauer des Lebens, sondern in der Tatsache, dass ein (noch so kleiner) Mensch zur Welt gebracht wurde – dass er „angenommen“ und „gedacht“ war. Und die Würde der Mutter liegt nicht allein in der erfolgreichen Weitergabe des Lebens, sondern in einem Zur-Verfügung-Stellen ihres eigenen Körpers an ein anderes Wesen – auch wenn dies nur für kurze Zeit war.

So gesehen hat die Mutter ihre Aufgabe nicht verfehlt. Sie hat sie vielleicht sogar auf besonders intensive Weise gelebt.
Denn es ist eine Form der tiefsten Hingabe an das Leben, das Hin-Geben an das Nicht-Haben in das eigene Leben zu integrieren.


Die Identität der Mutter: Sie ist nicht gebunden an die Dauer, sondern an die Beziehung

In einer Gesellschaft, die Identität gerne über Leistung, Sichtbarkeit und messbare Ergebnisse definiert, erscheint eine Mutterschaft ohne Kind schnell als „nicht vollendet“. 
Als keine „richtiges“ Mutter-Sein.
Das dürfen wir jedoch hinterfragen.

Denn jenseits des sichtbaren Daseins eines Kindes gibt es noch mehr, was ein Mutter-Sein ausmachen kann:

Die Beziehung, die zwischen Mutter und Kind entstanden ist.
Die Liebe und Verbundenheit, die gefühlt wurde – auch ohne Gegenliebe im klassischen Sinn.
Oder das Verwandeltwerden, das sich vollziehen kann, wenn ein Mensch durch einen anderen berührt wird – mitunter in einem einzigen, kurzen Moment.

Menschen sind keine isolierten Wesen. Wir alle entstehen in einem Dialog, im einem „Wir“. Und in dieser Perspektive ist eine Mutter nicht erst dann Mutter, wenn sie ihr Kind in den Armen hält. Sondern schon, wenn sie ein werdendes Leben in sich trägt.
Und sie bleibt es – auch wenn dieses Leben früh endet.

Die Identität der Mutter verändert sich also nicht weg von etwas, sondern hin zu einer anderen, vielleicht tieferen Form der Beziehung. Diese muss nicht auf physischer Anwesenheit basieren, sondern ist ebenso über innere Nähe, Erinnerung oder Sinngebung möglich.


Die Integration von Freude und Verlust: Kein Entweder-oder

Viele Sternen-Mütter fühlen sich nach dem Verlust ihres Kindes tief verunsichert:
Darf ich fröhliche Momente genießen, obwohl ich ein Kind verloren habe? Darf ich glücklich sein – ohne mein Kind?
Oder umgekehrt: Darf ich traurig bleiben, auch wenn andere meinen, „es sei jetzt genug getrauert worden“?

Diese Fragen zeigen, wie stark wir oft in einem Entweder-oder-Denken gefangen sind. Entweder man trauert – oder man geht weiter. Entweder man blickt zurück – oder nach vorn.
Aber das Leben gestaltet sich nicht in Entweder-oder. Sondern in Sowohl-als-auch.

Eine Mutter, die ein Kind verloren hat, trägt beides in sich:
Tiefe Gefühle der Verbundenheit und Liebe – und den Schmerz des Verlustes.
Momente der Leichtigkeit und Freude – und Momente der Enttäuschung und Trauer.
Innere Helligkeit – und innere Dunkelheit.

Und genau darin kann eine neue Definition von weiblicher Fruchtbarkeit münden:
Fruchtbarkeit nicht nur als Zeugnis der Fähigkeit, Leben geben zu können, sondern das Leben in all seinen Facetten halten zu können. Als Gleichzeitigkeit des Lebens an sich.
Unter diesem Blickwinkel geht es nach dem Verlust eines Kindes nicht um eine Rückkehr zur „alten Normalität“, sondern um das Entdecken des neuen Selbst, das beide Realitäten – Geburt und Tod – in sich trägt.


Eine neue Sprache der Mutterschaft

Vielleicht braucht es für diese Identität eine neue Sprache. 
Eine Sprache, die nicht danach fragt: Wie viele Kinder hast du?
Sondern: Wem gehörte dein Herz?
Nicht: Was hast du erreicht?
Sondern: Was hast du empfunden?
Nicht: Bist du Mutter?
Sondern: Was hat dich zur Mutter gemacht?

Über eine Sprache, welche die Perspektive wechselt, wird deutlich:
Mutterschaft ist kein Status.
Sie ist etwas, das entstanden ist – eine Form des inneren Gewordenseins.
Und diese Form kann sich verändern – sie erlischt nicht durch den Tod eines Kindes. 
Sie wird nur anders. Oft stiller. Sicher weniger sichtbar. Doch nur, weil andere nicht in das Herz einer Mutter schauen können.


Was bedeutet es für Dich, Dich neu zu erkennen – im Angesicht des Verlusts?

Dich neu zu erkennen oder zu entdecken, heißt nicht, dass Du Dich neu erfinden musst. 
Es bedeutet: dem, was geschehen ist, einen Platz in Deinem Selbst zu geben.
Um nicht weiterzumachen wie zuvor, sondern um als jemand weiterzuleben, 
der durch den Verlust innerlich verändert wurde.

Deine Identität als Mutter, die ein Kind verloren hat, ist nicht defizitär.
Sie kann durchdrungen sein von Deiner Tiefe, die andere vielleicht nie berühren.
Deine neue Identität kann zur Zeugin werden von etwas, das über den Tod hinausgeht.
Denn Deine Erfahrung ist zwar schwer – kann aber gleichermaßen heilig sein.

Du bist als Mutter durch den Verlust nicht weniger geworden– sondern anders.
Und in dieser Andersartigkeit muss nicht nur Schmerz wohnen, Du kannst eine ganz neue Art von Stärke daraus erwachsen lassen:
eine Kraft, die zwei widersprüchliche Wahrheiten gleichzeitig tragen kann –
und Dich gleichzeitig selbst darin neu spüren.


Der Medizinethiker Giovanni Maio könnte hierzu sinngemäß schreiben:

Der Mensch wird am Du zum Ich.

Das gilt in besonderer Weise für eine Sternen-Mutter:
Sie wird zur Mutter durch ein Kind – auch, wenn dieses Kind nur kurz bei ihr war.
Sie wird zur Mutter in der Beziehung – auch, wenn sie diese Beziehung nur innerlich weiterführen kann.
Sie wird zur Mutter in der Verwandlung – auch, wenn diese nach außen nicht sichtbar ist.


Man könnte sagen:
Die Identität der Mutter nach dem Verlust ist kein Zerfall, sondern ein Wachsen.
Ein Hineinwachsen in eine neue seelische Tiefe.
Ein Wachsen in eine neue Art von Beziehung – zu sich selbst, zum Kind, zur Welt.

Eine solche Identität muss nicht vergessen.
Sie erinnert sich gerne –
weil sie die Verbundenheit spüren kann und in sich lebendig hält.


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