Was, wenn der Verlust eines Kindes nicht nur sinnloses Leid ist? Was, wenn es eine Ordnung gibt, die wir nicht verstehen? Diese Geschichte erzählt von meinen Träumen, die wahr wurden. Von Stimmen, die Unmögliches sagten. Von meiner Tochter, die sich „mit einer Krankheit geschmückt“ hat. Es ist meine Geschichte, wie ich als Mutter zwischen Angst und Vertrauen einen Weg finden musste – und dabei eine völlig neue Sicht auf Leben und Tod entdeckte. Eine Erfahrung, die bis heute meine berufliche Haltung und meine Sicht auf Schwangerschaft und Geburt prägt.
„Hallo Mama, Hallo Papa. Die Zeit ist um und ich bin da…“
Mein fünfjähriger Sohn sang das Vogelhochzeitlied von Rolf Zuckowski. Er betrat mein Krankenzimmer, um mich zu besuchen. Er wollte seine kleine Schwester begrüßen und zugleich verabschieden.
Sie lag in ihrem Neugeborenen-Bettchen neben mir. Sie sah genauso aus wie in meinem Traum. Nur gab es sie damals noch nicht.
Dir diese Geschichte zu erzählen, fällt mir schwer. Über das Unmögliche zu sprechen ist nie leicht. Vielleicht kennst du dieses Gefühl auch – wenn Worte nicht reichen für das, was du erlebt hast.
Als alles begann: Der Traum von Tod und Geburt
Ich war eine junge Mutter von zwei Kindern. Ein fünfjähriger Junge, ein zehn Monate altes Mädchen. Übermüdet und oft überfordert, wie es vielen Müttern geht.
Dann kam dieser Traum. Ein Bild mit dem Titel „Tod & Geburt“. Nicht umgekehrt. Nicht „Geburt & Tod“. Solche Bilder kennen wir heute aus Büchern über Nahtod-Erfahrungen. Damals waren sie mir fremd.
Nach dem Aufwachen war ich verstört. Die Situation bot keine einfache Erklärung für seltsame Träume. Ich dachte nicht lange darüber nach.
Einige Wochen später begann das, was mein Leben verändern sollte.
Die Stimme, die Unmögliches sagte
Stimmen zu hören gehört zum schizophrenen Bereich. Ohne eine Krankheit wird das Erklären schwerer. Dennoch hörte ich sie.
Was sie mir sagte, war beängstigend: „Du bekommst es mit dem Tod zu tun. Eines deiner Kinder wird sterben.“
Diese Botschaft begleitete mich tagelang. Überhören oder ignorieren war unmöglich. In mir machte sich Angst breit. Meine beiden kleinen Kinder waren so gesund und munter.
Nach Tagen sprach ich die Stimme selbst an. Ich beschwerte mich über ihre Botschaft. Ihre Antwort kam prompt:
„Du brauchst keine Angst zu haben. Ja, du bekommst es mit dem Tod zu tun. Ja, eines deiner Kinder wird sterben. Doch bis es so weit ist, wirst du es verstehen. Alles hat seine Ordnung.“
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu glauben und zu vertrauen.
Der Traum vom vergessenen Baby
Wochen vergingen. Mein Kopf hatte die Ereignisse weggeschoben. Die Ruhe kehrte zurück. Vielleicht war alles nur Einbildung gewesen.
Dann kam ein neuer Traum. Er wiederholte sich zwei Nächte hintereinander. In der zweiten Nacht träumte ich luzide – ich konnte denken und handeln.
Der Traum handelte von einem toten Baby. Es war achtlos abgelegt worden. Es sah aus wie ein zu früh geborenes Kind. Deutlich kleiner als normal. Seine Hautoberfläche war an manchen Stellen verletzt.
Ich fragte mich, was mit dem Baby geschehen war. Worum ging es in diesem Traum?
Die Antwort kam: „Würde.“
Das schien mir passend. Ich nahm das kleine Wesen hoch. Ich schlug es in ein OP-Tuch und versprach ihm einen würdigen Abschied.
Wenn das Leben neue Gleise legt
Unsere Familienplanung war abgeschlossen. Doch manchmal setzt uns das Leben aber auf ein neues Gleis. Es reicht eine einzige Gelegenheit.
Es war der 29. Juni. Peter und Paul, der Geburtstag meiner Großmutter. An diesem Tag begann neues Leben. Meines und das unseres dritten Kindes.
Von Anfang an hatte ich ein komisches Gefühl. Der Arzt fragte nach pränataler Diagnostik. Mein Mann und ich sprachen über mögliche Folgen solcher Tests. Ich hatte schon einmal unter Druck einem Schwangerschaftsabbruch zugestimmt. Eine Entscheidung, die nicht verhallte. Unser Konsens: Wir verzichten auf Diagnostik und nehmen an, was kommt.
Es kam. Und zwar dicke.
Wenn Wachstum ausbleibt
Bei den Vorsorgetests zeigte sich: Unser Kind wollte nicht richtig wachsen. Mein Arzt war der Ansicht, dass der Zeugungstermin falsch sei. Er glaubte mir nicht.
Im Verlauf der Schwangerschaft flachte die Entwicklung immer weiter ab. Es gab ein Problem. Aber welches?
Ursprünglich wollten wir keine pränatale Diagnostik. Aber für die Frage, welche Hilfe unser Kind bei der Geburt braucht, stimmten wir einer Fruchtwasser-Untersuchung zu. Widerwillig, aber dennoch.
Die Diagnose: Trisomie 18
Zu ahnen, dass etwas „nicht gut ausgehen könnte“ und Gewissheit zu bekommen sind zwei verschiedene Dinge. Die Diagnose Trisomie 18 überraschte mich nicht. Sie bestätigte meine Intuition.
Geholfen hat es trotzdem nicht gegen den Absturz in die Trauer. Wir mussten uns von der Hoffnung verabschieden. Von der Hoffnung auf einen guten Ausgang der Schwangerschaft.
Trotz aller inneren Vorbereitung zog es uns den Boden unter den Füßen weg. Weinend gingen wir ins Bett.
Das Gespräch mit dem ungeborenen Kind
Ungeborene können nicht sprechen. Bis zu dieser Nacht war ich davon absolut überzeugt. So etwas gibt es nicht. Kann es nicht geben.
Trotzdem weckte mich mitten in der Nacht eine Stimme. Sie sagte, sie sei mein Kind und wolle mit mir reden.
Unser Gespräch berührte verschiedene Punkte. Doch ein Satz brannte sich besonders in mein Gedächtnis. Er stellte mein gesamtes medizinisches Denken auf den Kopf:
„Ich habe mich mit dieser Krankheit geschmückt…“
Wenn alles zusammenbricht
Alles, was ich über Gesundheit und Krankheit gelernt hatte, brach zusammen. Wie ein Kartenhaus. War das, was man mich gelehrt hatte, wirklich wahr? Oder das, was mir gerade widerfuhr?
Dieser Satz öffnete ein Fenster. Eine neue Sichtweise. Eine Sichtweise, die sich geordnet, ruhig und vor allem „richtig“ anfühlte.
Aus medizinischer Sicht war mein Kind schwerkrank. Es war dem Tod geweiht. Gleichzeitig nahm ich etwas anderes wahr: „Es hat seine Ordnung so.“
Dieses Kind schien nicht „zufällig krank“. Es war mit einem eigenen Plan unterwegs. Unsere Wege hatten sich gekreuzt. Einander „berührt“.
Die schweren Wochen des Abschieds
Wir hatten noch ein paar Wochen miteinander. Mehr und mehr wurde klar: Ich würde mein Kind zu Tode austragen.
Das allein war schwer auszuhalten. Aber auch, dass ich mit meiner neuen Gedankenwelt nicht mehr zu meiner Umgebung passte. Ich konnte nicht über meine Wahrnehmungen sprechen. Ich musste meine Worte sorgsam wählen. Ich musste mich verhalten, wie man es von einer betroffenen Mutter erwartet.
Manchmal musste ich sogar meine Mitmenschen schützen und aufbauen.
Es war ein langes Abschiednehmen. Ich wusste nicht, wann der endgültige Moment kommen würde.
Die Taufe im Bauch
Ein katholischer Pfarrer in der Gemeinde „Peter und Paul“ fand sich. Er taufte meine Tochter auf den Namen Leona. Noch in meinem Bauch.
Leonas Geburt und Abschied
Zwei Tage später kam sie zur Welt. In der 43. Schwangerschaftswoche. Einen Tag nach ihrem Tod. Sie wog 1250 Gramm. Sie sah aus wie ein zu früh geborenes Baby. An manchen Stellen hatte sie Hautläsionen.
Genauso, wie ich sie im Traum gesehen hatte.
Als sie im Kreissaal in meinen Armen lag, dachte ich an alles, was mir begegnet ist.
Alles hat sich erfüllt. Jetzt war es rund, vollendet. Der Kreis hatte sich geschlossen.
Alles hatte seine Ordnung.
Trauer und Erfüllung zugleich
Ich war traurig. Erschöpft. Und zugleich unglaublich erfüllt von einem Gefühl der Verbundenheit über Raum und Zeit. Dieses Gefühl ließ meine Trauer schmelzen, wie Sonnenstrahlen Schnee schmelzen lassen.
Warum ich diese Geschichte öffentlich mache
Vielleicht fragst du dich jetzt: Was soll mir diese Geschichte bringen? Ich habe mein Kind verloren. Ich habe keine Stimmen gehört. Ich hatte keine Träume. Wo ist mein Trost?
Diese Geschichte soll nicht zum Ausdruck bringen, dass du die gleichen Erfahrungen machen musst.
Sie mag Dich höchstens einladen: Es könnte mehr geben zwischen Himmel und Erde, als wir verstehen.
Vielleicht magst Du Dich zu Deiner Zeit ja dafür öffnen.
Zwischen Angst und Vertrauen
Der Weg durch eine bedrohte Schwangerschaft und durch Verlust ist geprägt von Angst. Angst vor dem Schmerz. Angst vor der Leere. Angst davor, dass nichts mehr Sinn macht.
Diese Geschichte zeigt die Spannung zwischen Angst und Vertrauen. Wie schwer es ist zu vertrauen, wenn wir nicht wissen, wie es weitergeht. Wie wichtig es trotzdem ist.
Vielleicht musst auch du lernen zu vertrauen. Dass dein Schmerz einen Sinn hat. Dass euer gemeinsamer Weg, so kurz er war, Bedeutung hatte.
Eine neue Sicht auf Krankheit und Tod
„Ich habe mich mit dieser Krankheit geschmückt“ – dieser Satz verändert alles. Er sagt: Vielleicht ist nicht alles Zufall. Vielleicht haben auch schwere Diagnosen eine Bedeutung.
Das nimmt den Schmerz nicht weg. Aber es kann ihn verwandeln. Aus etwas Sinnlosem etwas Sinnvolles machen. Auch wenn wir noch nicht wissen Wie.
Wenn Ordnung spürbar wird
„Alles hat seine Ordnung“ – auch das ist schwer zu akzeptieren. Welche Ordnung soll der Tod eines Kindes haben?
Vielleicht die Ordnung der Liebe. Die Ordnung des Wachsens. Die Ordnung des Lernens. Für dich. Für dein Kind. Für alle, die euch begegnen, die euch begleiten.
Dein Weg ist einzigartig
Diese Geschichte ist ein Angebot. Ein Angebot, deinen eigenen Verlust aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Du musst es nicht annehmen. Du darfst deine eigene Wahrheit finden.
Aber vielleicht hilft es zu wissen: Uns kann sich Unmögliches zeigen. Es lässt sich Trost finden, wo keiner ihn erwartet. Und Sinn finden im Sinnlosen.
Verbunden über den Tod hinaus
Das stärkste Gefühl in dieser Geschichte ist für mich die Verbundenheit. Die Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende ist. Nicht sein kann. Und dass die Verbindung zwischen Mutter und Kind ein unkaputtbares Band ist, das hält – über Raum und Zeit.
Vielleicht spürst auch du diese Verbundenheit. In stillen Momenten. In Träumen. In kleinen Zeichen, die nur du verstehst.
Mut zur eigenen Wahrheit
Diese Geschichte will Mut machen zur eigenen Wahrheit. Zur eigenen Art zu trauern. Zur eigenen Art zu heilen. Zur eigenen Art, die Dinge zu sehen.
Lass dir von niemandem sagen, wie dein Weg aussehen soll. Vertraue dem, was in dir ist. Auch wenn es für andere „unmöglich“ erscheint.
Schluss: Das Licht im Dunkel
Leonas und meine Geschichte endet nicht mit ihrem Tod.
Sie endet in innerem Frieden.
Mit der Gewissheit vom Bestehen einer Ordnung, die größer ist als mein Verstehen.
Aus der Erfahrung mit meiner Tochter ist eine Berufung geworden.
Ohne diese für mich bereichernde Erfahrung hätte ich diesen Weg nicht gefunden.
In den letzten 30 Jahren habe ich viele Frauen in und nach herausfordernden Schwangerschaften begleitet. Ihnen geholfen, neue Perspektiven zu entwickeln. Perspektiven, mit denen sie sich besser fühlen, die sie stärken machen.
Meine Erfahrung darin gebe ich an Fachfrauen weiter und an angehende Hebammen an der Hochschule.
Die Erfahrung mit Leona hat mir gezeigt: Auch der schwerste Verlust kann zu etwas Neuem führen.
Zu einem Weg, der vorher nicht da war.
Sogar zu einer Berufung, die aus dem Schmerz gewachsen ist.
Falls du nun den Wunsch hast, deinen eigenen Verlust aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten – ich habe einen kleinen Selbstlernkurs entwickelt. Er ist für Frauen wie dich, die ohne Druck im eigenen Tempo aus Schmerz und Trauer herauswachsen wollen.
Vielleicht findest auch du diesen Frieden. Nicht heute. Nicht morgen. Aber irgendwann. Vielleicht entdeckst du sogar einen neuen Weg, der aus deiner Erfahrung erwächst.
Dein Kind war da. Es hat eine Spur hinterlassen. Es ist Teil deiner Geschichte.
Du bist die, die ihm den Platz geben kann, den es in deinem weiteren Leben einnehmen soll.
Das ist genug. Das ist alles.
liebe Sabine
so wertvoll und gelungen. Einfach super!!!
Ich finde Dich einfach genial!!!
liebe Grüße
Sigrid
Liebe Sigrid,
ich bin ganz überwältigt von Deiner großen Wertschätzung!
Von so einer wunderbaren Hebamme.
Ganz lieben Dank dafür!